Dem von mir hochverehrten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki begegnete ich in den späten 1980ern das erste Mal und zwar an einem Freitag vor einem ersten Adventssonntag auf dem Bahnsteig des Frankfurter Hauptbahnhofs, auf dem die Reisenden enerviert auf einen ICE nach München warteten.
Ich beobachtete Reich-Ranicki, der einen hellbraunen Wintermantel mit breitem Gürtel trug und auch Menschen, die der Literatur nicht nahestehen durch seine elegante Erscheinung auffiel. Gerne hätte ich ihn damals angesprochen, um meiner Bewunderung für ihn und seine eloquenten Kritiken Ausdruck zu verleihen. Doch ich wagte nicht, ihn in seiner Selbstversunkenheit zu stören. Er war, man sah es, mit seinen Gedanken weit weg und ich vermutete er war bei Heinrich Heine, denn er schmunzelte kaum merkbar, wie ich aus dem Augenwinkel entdecken konnte.
Etwa 10 Jahre später schickte ich ihm meine erste Rezension, die ich in meinem Leben vor den Amazon-Rezensionen verfasst hatte und erhielt daraufhin kommentarlos per Post zwei Karten für die Buchvorstellung seiner Autobiographie in den Räumen der Frankfurter Goethegesellschaft am Goethehaus. Die Verfilmung dieser Autobiographie möchte ich heute rezensieren. Der Literaturkritiker berichtete damals so packend aus seinem Buch, dass ich es natürlich sofort zu lesen begann und sehr schnell begriff, weshalb ihm kein anderer Literaturkritiker das Wasser reichen kann: Es ist seine berührende Vita, sind die Brüche in seinem Leben, das Leid, das ihn in jungen Jahren umgab und der unbedingte Wunsch dieses Leid zu überleben, was nur durch die Liebe zu seiner Frau und der großen Liebe zu Büchern möglich war.
Marcel Reich-Ranicki füllte sein Inneres mit Schöngeistigem auf, um die Hässlichkeit der Nazis ertragen zu können. Er befasste sich mit Kultur in einer Weise, wie Kritiker in unserer schnelllebigen Zeit der vielen Sinneseindrücke nicht in der Lage und wohl auch nicht bereit sind, diese sich hart zu erarbeiten. Ein kulturelles Leben ist letztlich immer auch ein klösterliches, ein abgeschiedenes Leben, ein Leben in der Welt der Worte, der Bilder und der Noten.
Ich sah Reich-Ranicki noch weitere drei Male, während er in Mainz, in Wiesbaden und in Frankfurt über Bücher sprach und war immer wieder von seiner Wortgewalt und von seiner tief empfundenen Liebe zum Buch begeistert. Diese Liebe zum Buch kommt auch im vorliegenden Film zum Ausdruck, der mich übrigens zu Tränen gerührt hat.
Der Film endet mit einer Szene, die am Frankfurter Hauptbahnhof ihren Anfang nimmt. Man schreibt das Jahr 1958. Reich-Ranicki kommt in Frankfurt an, wird, wie man einer schriftlichen Einblendung entnehmen kann, vier Wochen später als Literaturkritiker bei der FAZ schreiben und lebt seither, mittlerweile im 92. Lebensjahr schreibend in der Mainmetropole.
Das Werk des Regisseurs Dror Zahavi zeigt nicht das ganze Leben dieses Wahl-Frankfurters, sondern die Filmhandlung befasst sich mit seiner Kindheit, seiner Jugend und den Jahren seiner Lebensbrüche, die möglicherweise die Voraussetzung für den späteren Erfolg darstellten.
Die Handlung beginnt mit einer Verhörszene im Jahre 1949 in Warschau. Reich-Ranicki (Matthias Schweighöfer), der beim polnischen Geheimdienst seit Kriegsende gearbeitet hatte, wird vom Dienst suspendiert und berichtet von seinen zurückliegenden Jahren. Geboren in Polen als Sohn einer deutsch-jüdischen Mutter und eines polnisch-Jüdischen Vaters erlebt er schon als Kind in der Schule in Polen Ausgrenzung. Seine Mutter (Maja Maranow) macht ihrem hochbegabten Sohn schon früh klar, dass er als Jude viel besser sein muss als die anderen, um im Leben Erfolg zu haben. Auf ihr Betreiben gelangt Reich-Ranicki nach Berlin zur mütterlichen Verwandtschaft, um sich mit der deutsche Kultur vertraut und in Berlin auch Abitur zu machen.Reich-Ranicki ist ein hervorragender Schüler, liest zu diesem Zeitpunkt ununterbrochen, geht ins Theater und taucht tief in die Welt der Schöngeistigkeit ein.
Im Film gibt es Einblendungen, nachdem man zuvor nicht nur durch die Filmhandlung, sondern auch durch die Klänge von Chopin die bunte Geisteswelt Reich-Ranickis zu erfassen begonnen hat. Plötzlich sieht man Originaldokumente, die Hitler und seine Schergen zeigen, sieht Bücherverbrennungen und assoziiert das Gesehene mit Heines berühmter Sentenz, die sich, wie wir alle wissen, wenig später im Nazi-Deutschland bewahrheitet hat.
Reich-Ranicki darf trotz bester Noten in Deutschland nicht studieren, wird nach Polen abgeschoben. Hier lernt er seine Ehefrau Theofila kennen, deren Vater sich wenige Minuten zuvor erhängt hatte. Reich-Ranickis Mutter bittet ihren Sohn sich um das trauernde Mädchen zu kümmern und dieser tat es bis zu ihrem Lebensende im letzten Jahr.
Ab 1940 lebte Reich-Ranicki im Warschauer Ghetto und arbeitete dort zunächst als Übersetzer. Er heiratete Theofila und rettet ihr dadurch das Leben.
Im Film erlebt man schreckliche Szenen, die den Größenwahn der Nazischergen zeigen, die sich in ihren Uniformen sehr stark fühlen. Man kann sich einen Eindruck von ihrem Sadismus und ihrer Freude, Juden zu demütigen, machen. Von den 400 000 Juden im Warschauer Ghetto werden die meisten in das Konzentrationslager nach Treblinka verbracht und dort ermordet. Reich-Ranickis Eltern sterben in diesem Vernichtungslager, sein Bruder wird in einem Arbeitslager erschossen.
Reich-Ranicki und seine Frau überleben, weil ein mitfühlender polnischer Schriftsetzer beide versteckt hatte. Diese Szenen im Haus des Schriftsetzers berührten mich besonders, weil sie dokumentieren, dass selbst in dieser furchtbar bedrohlichen Situation, Reich-Ranicki noch immer von der Kulturwelt beseelt war.
Dass er nach der Befreiung aus Dankbarkeit bei der polnischen Geheimpolizei arbeitete, kann ich gut nachvollziehen, dass dies aber nicht seine Welt war, ist sofort erkennbar, denn seine Welt war und ist das Buch, dem er seit 1958 an Goethes Geburtsort und anderenorts huldigt und dem gegenüber er sich stets fair verhalten hat, auch zu Zeiten, wo ihm das beinahe das Leben gekostet hat.
Ein beeindruckender Film, mit vielen Facetten, den ich allen empfehle, besonders jenen, die glauben diesen großen Kritiker beerben zu können. Das wird keinem gelingen, denn Marcel Reich-Ranicki ist einzigartig.
Matthias Schweighöfer hat die Rolle des großen Literaturkritikers mit Bravour gespielt.
Laufzeit ca. 91 Minuten
Bild 16,9 (anamorph codiert)
Ton: Deutsch -Dolby Digital 5.1
Regionalcode: 2
Produzenten Katharina M. Trebitsch, Benjamin Benedikt
Regie: Dror Zahavi
Buch: Michael Gutmann
Sehr empfehlenswert.
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